Afghanistan nach der Talibanübernahme 2021, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung |
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Afghanistan nach der Talibanübernahme 2021, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung |
23. Oct 2021, 19:46 | Beitrag
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Oberleutnant Beiträge: 2.046 Gruppe: Members Mitglied seit: 28.12.2020 |
Guten Tag an alle Interessierten, die die Lageentwicklung in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 weiterverfolgen möchten.
Vor 2 Wochen habe ich mich mit einem guten Freund und dessen Bruder, afghanischen Tadschiken, intensiv über die Situation in dem Land unterhalten. Er hat an der Universität in Erfurt Politikwissenschaften studiert und kennt sich mit der Lage in Afghanistan aus. Seine kleine Familie sitzt dort auch noch in Kabul fest und wartet verzweifelt auf die Ausreise. Pakistan und die Taliban lassen niemanden aus dem Land ausreisen. Die Versorgungslage ist im ganzen Land sehr schlecht, da viele Menschen in den Städten keine Arbeit und somit auch kein Einkommen mehr haben. Sie haben sogar begonnen, ihre wenigen Möbel auf offener Straße zu verkaufen, um so an einige Lebensmittel heran zu kommen. Einer Statistik zufolge sollen etwa 97% (!) aller Afghanen unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch haben die Taliban kurz nach der Übernahme begonnen, alle Krankenhäuser und Apotheken, die mit Geld aus den westlichen Ländern errichtet wurden, niederzubrennen. Ihrer Meinung nach seien diese Gebäude "unrein". Einer seiner Brüder, die in Kabul geblieben sind, musste mit ansehen, wie kurz nach dem Einmarsch der Taliban 4 gefangene ANA-Soldaten morgens um 09.00 Uhr exekutiert wurden. Massenhinrichtungen soll es Berichten der UNO zufolge im ganzen Land geben. Der Widerstand im Pandschirtal und auch in der Provinz Baghlan geht weiter. Es gibt Berichte, daß Pakistan Anfang September mit Drohnen und Kampfflugzeugen die Verteidigungslinien der Widerstandskämpfer bombardiert hat und so den Taliban die Einnahme der Provinz ermöglichte. Das wäre das erste Mal seit sehr langer Zeit, daß dieses Tal von einem Eroberer kontrolliert wird. Die Russen hatten in den 80er Jahren 9 vergebliche Angriffe, teils in Divisionsstärke, versucht, daß Tal zu erobern. Auch die Taliban haben es in den 90er während des Bürgerkrieges nie einnehmen können. Damals hatte Ahmad Shah Masoud das Tal verteidigen können. Daher gilt er auch als einer der 5 erfolgreichsten Widerstandskämpfer des 20. Jahrhunderts. Sein Grab wurde übrigens von den Terroristen zerstört. Der jetzige Widerstand kann sich aber nur auf Guerrilla-Methoden stützen und gefährdet nicht die Herschaft dieser Terroristen. Heute (23.10.2021) gab es einen Bericht auf ARTE Journal, daß die Taliban mit ethischen Säuberungen in Masar i Sharif und der Provinz Daikondi begonnen haben. Dort leben viele Hazara. Die freiwerdenden Häuser und Bauernhöfe sollen nun mit paschtunischen Familien besiedelt werden, um so eine stärkere Präsenz dieser Volksgruppe im Norden Afganistans zu etablieren. Diese Vorgehensweise wurde schon Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts durch die Paschtunen durchgeführt, um mehr Kontrolle über den Rest des Landes zu erhalten. Da die Hazara der schiitischen Glaubensrichtung angehören, der große Rest sind Sunniten, werden sie schon seit jeher von den Paschtunen drangsaliert. Mein Freund sagte mir auch ganz deutlich, daß alle Volksgruppen mit den Paschtunen nichts mehr zu tun haben wollen. Ihr Stammesdenken lehne man ab, es ist rückwärtsgewandt. Sie haben immer versucht den anderen Volksgruppen (Tadschiken, Usbeken, Hazara, Aimaken u.v.a.) ihren Willen aufzuzwingen, was man nicht mehr hinnehmen wolle. Es gilt in Afghanistan als Tabu, keiner spricht darüber, aber man wolle die Paschtunen los werden, den Norden und Westen des Landes abtrennen und einen eigenen Staat gründen! Er sagte auch, das 42 Jahre Krieg genug seien und man die Taliban erstmal zur Ruhe kommen lassen wolle. Sie sollen sich an das bessere Leben in der Stadt gewöhnen in der Hoffnung, daß sie ihre Denkweise allmählich ändern. Ich persönlich bin nicht sehr überzeugt davon, aber es ist nicht mein Land und habe Das nicht zu entscheiden. Aber wenn sich die Lage weiter so entwickelt, wird es in den Städten kein besseres Leben geben. |
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