Willkommen, Gast ( Anmelden | Registrierung )

Zurück zum Board Index
 
Reply to this topicStart new topic
> Politische Systeme - the good, the bad, the ugly, Gewaltenteilung, Fraktionsdisziplin und anderes
Almeran
Beitrag 30. Sep 2022, 11:01 | Beitrag #1
+Quote PostProfile CardPM
Generalmajor d.R.
Beiträge: 8.775



Gruppe: Moderator
Mitglied seit: 20.10.2004


Wir hatten letztes Wochenende in einem der Russland-Threads eine kleine Diskussion rund um das Abstimmungsverhalten von MASZ und anderen Abgeordneten der Regierungskoalition. Es kam die Frage auf, ob es Dinge wie Fraktionsdisziplin in einer Demokratie geben sollte und was das Abstimmen mit der Regierung, aber gegen persönliche Überzeugungen über die freie Ausübung des Mandats und die Gewaltenteilung in Exekutive und Legislative aussagt. Das würde ich gerne weiter diskutieren, denn es ist ein extrem spannendes Thema. Ich möchte es aber, und das ist mir extrem wichtig, auf einer allgemeinen Ebene diskutieren, losgelöst von aktuellen Parteien, Regierungen und Themen. Für thematische Diskussionen haben wir eigene Threads und wir laufen sonst in Gefahr, dass aktuelle thematische Vorlieben den Blick auf die Vor- und Nachteile der Systeme verstellen. Davon erhoffe ich mir auch eine weniger erhitzte und wertende Diskussion. Alle Systeme haben ihre Vor- und Nachteile und ich bin auch daran interessiert, wie das in anderen Staaten gehandhabt wird.

Ich möchte einsteigen mit einer ausführlichen Antwort auf die Frage, warum es in Deutschland eine Fraktionsdisziplin gibt, warum es üblich ist, im Einzelfall gegen persönliche Überzeugungen mit der Regierung und gegen die Opposition zu stimmen und warum das nicht bedeutet, dass es in Deutschland keine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative gibt.

Gewaltenteilung und Fraktionsdisziplin haben nämlich wenig miteinander zu tun.

Die Regierung hat in Deutschland hat keine Möglichkeit, einzelne Parlamentarier/Fraktionen zu einer bestimmten Abstimmung zu zwingen. Im Gegenzug hat aber das Parlament die Möglichkeit, die Regierung zu ändern. Das ist die Definition von Gewaltenteilung in Exekutive und Legislative. Problematisch ist in Deutschland höchstens die Teilung zwischen Exekutive und Judikative, da Justizminister gegenüber Staatsanwälten weisungsberechtigt sein können.

Was als "fehlende Gewaltenteilung" bemängelt wird, ist die absolute Norm in den meisten mir bekannten repräsentativen Demokratien.

Nämlich, dass sich

1) Menschen zu Parteien zusammentun, um gemeinsam ihre politischen Ansichten zu vertreten,

2) diese Parteien sowohl Vertreter in der Legislative und der Exekutive haben bzw diese sich aus den Parteien rekrutieren und das

3) die Mitglieder der gleichen Partei in Legislative und Exekutive kooperieren, um die politischen Ideen ihrer Partei durchzusetzen.

Die Grundlage von politischer Willensbildung und Parteiarbeit in Exekutive und Legislative ist, dass man sich innerhalb der Partei eine politische Meinung bildet und da hat die Fraktion und mit ihr die Abgeordneten viel mitzureden - ohne bzw gegen die geht nämlich am Ende gar nichts, weil sie die Legislative vertreten (s. Gewaltenteilung).

Mit dieser politischen Linie geht die Partei, so sie an der Regierung ist und nicht alleine regiert, in die Verhandlung mit den Vertretern der anderen Regierungsparteien, um eine gemeinsame Linie der Regierung zu finden - über Kompromisse. Auch dieser Kompromiss wird wieder mit der Fraktion abgestimmt, denn, nochmal: ohne die geht gar nichts.

Erst wenn sich sowohl alle Fraktionen als auch alle Parteiführungen als auch die Mitglieder der Regierung einig sind, geht man den Weg ins Parlament, um dann dort abzustimmen. Dieses System aus Abstimmung und Kompromiss funktioniert aber nur, wenn man sich sicher sein kann, dass am Ende auch alle auf Linie bleiben - auch dann, wenn der Kompromiss dran ist, der eher den Zielen der anderen Partei dient. Die individuellen Meinungen wurden schon weit vorher ausgetauscht, da haben die Abgeordneten viel mitzureden, die finale Abstimmung im Bundestag ist nur der allerletzte Schritt. Und hier wäre es nicht möglich, ein Gesetz gegen den Willen einer Mehrheit der Abgeordneten zu verwirklichen, weswegen ihre Meinung ein hohes Gewicht hat.

Es geht aber noch weiter: nicht jede/r Abgeordnete/r kann sich in jedes Thema einarbeiten. Darum gibt es Ausschüsse. In diesen Ausschüssen sitzen die Fachpolitiker, die untereinander einen Kompromiss finden. Und in diesen Ausschüssen werden Gesetzesentwürfe der Regierung regelmäßig auf links gedreht. Das bekommt man allerdings als Außenstehender selten mit. Die Mitglieder des Ausschuss, der den Vorschlag der Regierung geprüft und eventuell angepasst hat, geben dann eine Beschlussempfehlung in ihre Fraktionen. Bedeutet: wir Fachleute haben uns das angeguckt, das sollten wir machen.
Auch das ist kein Selbstläufer, wird aber meistens angenommen. Dann schließt sich die gesamte Fraktion den Fachpolitikern im Ausschuss an, im Vertrauen, dass die es schon richtig machen werden. Auch dieses System funktioniert nicht, wenn Abgeordnete ohne Ahnung vom Thema auf Grundlage von einem Tweet oder Ähnlichem aus der Reihe scheren. Das können sie natürlich machen (s. Gewaltenteilung, s. freie Entscheidungen der Abgeordneten), aber man hat sich darauf geeinigt, dass man diese Streitereien vorher in der Fraktion und den Ausschüssen austrägt und nicht final im Plenum. Der freien Ausübung des Mandats steht das nicht entgegen.

Darum gibt es Fraktionsdisziplin. Das hat sehr wenig mit Gewaltenteilung zu tun und viel mit Kompromissfindung zwischen und innerhalb von Parteien. Und das gilt eben auch in den Fällen, in denen man sich als Partei&Fraktion&Regierung auf Linie A statt B geeinigt hat und die Opposition Linie B vorschlägt. Auch wenn man als Einzelperson individuell Linie B gut findet, aber bei der Kompromissfindung unterlegen ist. Damit stellt man sicher, dass die anderen sich auch daran halten, wenn sie mal in der Kompromissfindung unterliegen und die eigene Linie durchgesetzt werden soll.

Um es anders zu illustrieren: wenn mein Kind auf eine Party will, ich Ja sagen würde, die Mutter aber Nein und wir uns untereinander auf Nein einigen, dann werde ich im entscheidenden Moment auch nicht sagen "Hör nicht auf die Mama, du darfst gehen!". Und damit bin ich nicht mir selbst und dem Kind gegenüber unehrlich, sondern füge mich dem Kompromiss, der vorher gefunden wurde. Weil alles Andere bedeuten würde, dass meine Beziehung zur Mutter Schaden nimmt und ich mich dann im entscheidenden Moment auch nicht auf sie verlassen könnte. Das heißt aber nicht, dass nicht vorher ein Austausch auf Augenhöhe stattgefunden hat, in dem ich meine Meinung zum Ausdruck bringen konnte.

Wenn eine Mehrheit der Abgeordneten in einer Fraktion (die meistens auch die Mehrheiten in der Partei widerspiegeln) mit dem Kurs der Regierung nicht einverstanden ist, sondern die Ideen der Opposition besser findet, dann wird sie diese Regierung über ein konstruktives Misstrauensvotum stürzen. Aber auch diese Entscheidung trifft im Regelfall nicht eine einzelne Person für sich alleine (gerade bei knappen Mehrheiten durchaus möglich und legal weil Gewaltenteilung, freie Entscheidung der Abgeordneten), sondern da wird es eine Abstimmung geben. Und wenn diese theoretische eine Person unterliegt, kann sie ja immer noch anders abstimmen oder Partei und Fraktion wechseln und es trotzdem schaffen. Auch wichtig: der regierende Teil der Partei kann die Fraktion nicht in die eine oder andere Richtung zwingen. Weil: Gewaltenteilung.

Was hier bemängelt wird, ist, dass sich die Leute an Abmachungen halten, die vorher unter ihrer Mitwirkung entstanden sind. Das ist aber kein Zeichen einer mangelnden Gewaltenteilung. Gewaltenteilung bedeutet nämlich nicht, dass Exekutive und Legislative keine Absprachen treffen dürfen.


Die Parteien haben im Ãœbrigen aufgrund dieses Paragraphen:
ZITAT
Art. 21 (1) GG:

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.


Natürlich kann man diese Systeme auch anders ausgestalten. Zum Beispiel, indem man Abgeordnete nur direkt wählen lässt. Damit haben sie bzw ihre Wähler mehr Macht, da sich ein beliebter Abgeordneter im Zweifelsfall auch gegen den Willen der Partei halten kann. Wie das aussieht, kann man sich in den USA oder in England ansehen, wo die Regierung zu deutlich mehr Kompromissfindung mit einzelnen Abgeordneten und Senatoren gezwungen ist und Abweichler häufiger vorkommen.


--------------------
Liberalmeran.

Der Grad unserer Erregung wächst in umgekehrtem Verhältnis zu unserer Kenntnis der Tatsachen - je weniger wir wissen, desto aufgeregter werden wir.
- Bertrand Russell, Eroberung des Glücks
 
 
 

Reply to this topicStart new topic


1 Besucher lesen dieses Thema (Gäste: 1 | Anonyme Besucher: 0)
0 Mitglieder:




Vereinfachte Darstellung Aktuelles Datum: 26. April 2024 - 22:58