http://www.nzz.ch/international/europa/von...aten-1.18612657ZITAT
Von Spionen, Perversen und falschen Diplomaten
Mehr als ein orchestriertes Schaulaufen der Parteien der Macht liess der Kreml in den Regionalwahlen nicht zu. In Kostroma wurde die Opposition aufs Gröbste schikaniert.
von Daniel Wechlin, Kostroma13.9.2015, 21:58 Uhr
In der russischen Provinz ereignet sich Ungeheuerliches. Vom Ausland gesteuerte Provokateure versuchen einen Aufstand anzuzetteln. Zwei Personen mit hohen Geldsummen für die Agitation seien am Samstag festgenommen worden. Doch damit nicht genug. Spione treiben sich, als Journalisten getarnt, herum. Der Anti-Maidan ruft zur Aktion auf. Das Volk müsse vorsichtig sein. Sogar der Botschafter der USA sei unterwegs. Alles eine Posse? Durchaus nicht.
Zahlreiche Verstösse
Am Sonntag fanden in Russland Regionalwahlen statt. In Kostroma, 350 Kilometer nordöstlich von Moskau, galt es die Demokratische Koalition zu diskreditieren. Einzig in dieser Region liessen die Behörden nach einem juristischen Streit den Zusammenschluss mehrerer demokratischer Bündnisse zu den Wahlen zu. Doch damit begann erst die Hexenjagd: Immer neue Gerüchte machten die Runde, Personen wurden tätlich angegriffen, Pressekonferenzen gestört, gar von einem Mord war die Rede, Flugblätter mit pornografischen Darstellungen kursierten, welche die Regierungskritiker als Perverse karikierten. Der vermeintliche Botschafter entpuppte sich als Schauspieler, der mit einem Auto mit gefälschten Diplomaten-Nummernschildern vorfuhr.
Vom Ausmass der Schmutzkampagne war selbst Ilja Jaschin überrascht. Der 32-jährige Moskauer, einer der Wortführer der russischen Opposition und Weggefährte des im Frühjahr ermordeten Kreml-Kritikers Boris Nemzow, trat in Kostroma als Spitzenkandidat der liberaldemokratischen Partei RPR-Parnas für das regionale Parlament an. Er reiste kreuz und quer durch die Provinz, hielt 134 Wahlveranstaltungen und schüttelte Tausende von Händen. Am Sonntagabend deuteten erste Hochrechnungen aber darauf hin, dass seine Partei an der 5-Prozent-Sperrklausel scheitern könnte. «Mit allen erdenklichen Kräften wurde uns entgegengewirkt», resümiert Jaschin gegenüber der NZZ. Trotzdem sei er vielerorts positiv aufgenommen wurden, meint er. Er sei in Dörfern gewesen ohne Gas und richtige Wasserversorgung. Die Jungen seien schon fast alle weg. Die Alten blieben perspektivenlos zurück, sie wurden richtiggehend vergessen. Hört sich aber jemand ihre Sorgen an, akzeptiert die prekären Lebensumstände und Korruption nicht als gegeben, so stosse der auf Akzeptanz. «Die Regierungspartei Einiges Russland hat es gar nicht nötig, solche Dörfer zu besuchen. Für sie existieren sie gar nicht. Ihre loyalen Mitarbeiter sorgen in den Wahlkommissionen ohnehin für die richtigen Resultate», sagt Jaschin.
Tatsächlich wurden an den Wahlen – in 21 Föderationssubjekten (von insgesamt 83) waren die Gouverneure neu zu bestimmen, in 11 die Regionalparlamente – landesweit wieder zahlreiche Verstösse registriert. Schwer wiegen für die Opposition aber auch verschärfte Registrierungsvorschriften und ein kleine Parteien und Einzelkandidaten benachteiligendes Wahlgesetz. Andrei Piwowarow von der Parnas-Partei reklamierte in Kostroma im Vorfeld der Wahlen Gesetzesverstösse, er wurde aber prompt selbst festgenommen und sitzt seit 47 Tagen in Haft. So scharf die Propaganda war, in Kostroma schien dies nicht besonders viele an die Urnen zu ziehen. Doch die von Behördenvertretern angefeuerte Verleumdungskampagne zeigte Wirkung: «Ich lehne die Opposition kategorisch ab. Parteien wie Parnas waren auf dem Bolotnaja-Platz!», sagt die Verkäuferin Anna Antonowa, die ihre Stimme Einiges Russland gab. Bei der Demonstration am Vortag von Putins Amtseinführung im Mai 2012 kam es in Moskau nach Provokationen durch die Sicherheitskräfte zu Handgreiflichkeiten. Die Behörden sprachen von Massenunruhen, die Opposition wurde als Vaterlandsverräter verteufelt, und diverse Personen wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Sie verstehe nicht, was solche Leute nun hier suchten, sagte Antonowa.
Kostroma mit einer Viertelmillion Einwohnern ist eine pittoreske Provinzstadt an der Wolga aus dem 12. Jahrhundert und wegen seiner Klosteranlagen, goldenen Zwiebeltürme und bunten Holzhäuser ein beliebtes Reiseziel. Die gleichnamige Region, anderthalbmal so gross wie die Schweiz, leidet aber unter Abwanderung und geringer Produktion.
«Putin ist nicht schuld»
Die Abhängigkeit von Moskau ist gross. Im landesweiten Vergleich ist der monatliche Durchschnittslohn mit umgerechnet 313 Franken rekordverdächtig tief. Nun kommen noch die Wirtschaftskrise und die steigenden Preise hinzu. Doch dass für die Lage die Amtsinhaber oder die Politik des Kremls verantwortlich sind, bestreitet Antonowa. Alle müssten nun eben mehr leisten. «Nicht der Präsident, die Sanktionen sind schuld. Putin ist super. Ohne ihn würde es uns und Russland noch schlechter gehen.» Es müsse sich zwar schon etwas verändern. Doch so schlimm sei es doch gar nicht. Solches war in Kostroma viel zu hören. Eine generell lähmende Politikverdrossenheit kam hinzu. «Wählen? Das hat doch gar keinen Einfluss auf unser Leben. Warum sich also engagieren?», meinte etwa der Grafiker Alexander Uschakow. Die letzten Regionalwahlen vor den nationalen Parlamentswahlen 2016 verkamen zu einem orchestrierten Schaulaufen der eingesessenen Parteien, in erster Linie von Einiges Russland. Die Opposition wurde grob schikaniert, dies, obwohl sie schwach, zerstritten und vor allem in der Provinz weit weg davon ist, eine Stimme von Gewicht zu sein. Alles andere erscheint dem Staat als Bedrohung.