ZITAT(Kameratt @ 7. Apr 2020, 23:43)
ZITAT(Schwabo Elite @ 6. Apr 2020, 23:11)
Insofern würde ich zusammenfassen: Man muss sich bei der Frage einzelne Kulturstränge anschauen. Manche Traditionen überdauern Jahrhunderte und Jahrtausende. China hat sich seit 1949 aber so rasant verändert, dass ich - außerhalb von kultischen Praktiken - wenig Chance auf Kontinuitäten sehe.
Das gleiche lässt sich nahezu für alle Staaten belegen. Industrielle Revolution und politische Transformationen haben in jedem betroffenen Land tiefgreifende Spuren hinterlassen und gerade Deutschland wäre ein gutes Beispiel dafür.
Trotzdem käme heute niemand auf die Idee, Goethe und Schiller nicht als Teil der deutschen Kultur zu betrachten, weil keine unmittelbaren Kontinuitäten zur Bundesrepublik vorhanden sind.
Du verwechselst jetzt Staatswesen und Staatsordnung mit allgemeiner Kultur. Das ist kein geeigneter Gesichtspunkt. Dazu kommt, dass Goethe und Schiller 200 Jahre oder weniger tot sind, das ist nicht die Longue durée, um die es bei China geht.
China hat außerdem in der Kulturrevolution bewusst mit allem vorherigen brechen wollen. So eine Phase gab es in Deutschland nur bedingt: Die Nazis wollten eine Menge verändern, haben aber de facto auch nur einzelne Aspekte kulturell (stark) verändert und die SED hat nach ein bisschen Stalinismus auch keine Nummer in der Größenordnung der chinesischen Kulturrevolution hingelegt. Von kulturellen Erinnerungsorten (im geschichtstheoretischen Sinne) wie Goethe oder Schiller hat sich in Deutschland nie jemand verabschiedet.
Aber schauen wir auf europäische Beispiele mit annähernd ähnlicher Zeitdimension wie Chinas proklamierte 5.000 Jahre; und hier: Glorfindel stellt das Wesentliche ja raus. Da bleiben nur Rückgriffe auf Rom, das sind keine 2.500 Jahre im allgemeinen Bewusstsein, eher nur so 2.000 Jahre, und Griechenland, da kommen wir nicht über Homer hinaus, also Erzählungen frühestens des 8. Jahrhunderts vor Christus über frühestens das 14. Jahrhundert vor Christus.
Das allgemeine Wissen in der Bevölkerung über Homer ist sehr gering. Es dürfte sich, so der Name überhaupt Klang hat, bei "alter Grieche", "Odysseus" und "Trojakrieg" erschöpfen. Zeitlich bemessen kann das kaum einer, da mach ich mir als Althistoriker mit Erfahrung im gymnasialen Unterricht keine Illusionen, von Real- und Hauptschule brauchen wir nicht reden.
Und selbst wenn Homer noch als Erinnerungsort für Europa gelten darf, in Griechenland ist es sicher so, dann ist das doch in sich sehr fragwürdig. Homer (egal ob Individuum oder Autorenname mehrerer Personen) hat keinen Europabegriff, er hat keinen Griechenlandbegriff, er kennt maximal
Argiven,
Achaier oder
Danaier, selbst
Hellenen spielt als Begriff keine große Rolle. Für Herodot, vielleicht eine Generation später schreibend, sieht es ähnlich aus. Und die Kontinuität von Homer zum modernen Europa ist eben sehr, sehr dünn, denn es gibt eine deutliche Zäsur mit dem Verlust fast der gesamten Schriftlichkeit und Schriftkultur zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Kurz gefasst, ist das Nadelöhr dafür offenbar das fünfte Jahrhundert, das einen eklatanten Einbruch der Schriften bringt, aus verschiedenen, teils verwobenen, teils unabhängigen Faktoren wie dem Alter der physischen Werke (Papyri und Pergamente brauchen spätestens alle 500 Jahre eine Abschrift, oft früher), Zerstörungswellen und Verlagerungen der Buchbestände aus den Städten auf die Landgüter der Adligen. Letzteres oft aus Schutz, manchmal als verdeckte Plünderung und nicht selten einfach, weil der Trend aus der Stadt aufs Land geht.
Fast alles, was nach dem fünften Jahrhundert noch im lateinischen Westen existiert, schafft es durch's Mittelalter in die Renaissance, dort wird einiges durch Kontakt mit Byzanz und der islamischen Welt wiederentdeckt durch den Westen und dazwischen (also von 600 bis 1450) gibt es nur sehr wenige Neuzugänge. Seit 1600 sind die Neu- oder Wiederfunde vor allem archäologisch bedingt und insgesamt klein (aber nicht unerheblich). Geschätzt haben wir über 90 Prozent der antiken Werke verloren und bei Korrespondenzen und Alltagstexten (Einkaufszettel, Wahlscherben etc.) dürfte der Verlust nahe 100 Prozent liegen, auch wenn wir substantielle Textocorpora haben, man hat einfach alles möglich damals - wie heute - aufgeschrieben und schon kurzfristig überschrieben oder weggeworfen (auch wie heute).
So eine ausgedehnte Phase des Nicht-Anknüpfenkönnens macht viel mit einem Kulturraum. Und ja, in Griechenland und auch Italien nimmt man sich gerne seit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts als Nachfahren
der Römer und Griechen, aber das ist wissenschaftlich nicht haltbare Kirschenpickerei und ebenfalls reine Propaganda. Das gilt natürlich auch für Deutschland und die Germanen, Frankreich und die Gallier und England und die Britannier, wobei die Engländer es hier sehr bunt treiben und wahlweise an die keltischen Britannier, die germanischen Angeln und Sachsen oder die Normannen anknüpfen, je nach Zusammenhang.
China handhabt das ebenso. Touristisch und in der Politpropaganda ist es noch immer opportun 5.000 Jahre als Zahl in den Raum führen zu können. Wie Havoc aber schon schrieb lässt sich das leicht dekonstruieren, weil "China" eben ein genau so wandelbarer Begriff ist und war wie "Europa". Vermutlich sogar noch mehr, weil "Europa" ein recht junger Begriff ist. Man knüpft in China halt an die ersten größeren Siedlungsverdichtungen an. Da wären wir wieder bei der Analogie zu Ägypten oder Mesopotamien: China ist schon räumlich in den letzten Jahrtausenden immer wieder völlig anders geprägt gewesen, sei es hinsichtlich der eigenen äußeren Grenzen oder der eigenen Machtzentren oder ihrer Verteilung im Lande. Mal gehört im Südwesten des Landes noch "Indochina" dazu, mal die koreanische Halbinsel oder Teile des Hochplateus von Tibet. Und dann kommt natürlich noch die Phase der Fremdherrschaft durch Mongolen dazu.
Auf Europa übertragen zeigt sich, wie ignorant und absurd so eine Argumentation ist. Wir haben weder mit Kreta, Homer, Alexander dem Großen, Sparta, Rom oder Karl dem Großen und ähnlichen Erinnerungsorten wirklich faktisch zu tun. Rom ist die Hauptstadt der viertgrößten Volkswirtschaft Europas, die anderen Zentren sind Berlin, London und Paris, und die europäischen Behörden sitzen in Straßburg, Luxemburg und Brüssel. Manche von den Städten gehen auf die römische Zeit zurück, ja, aber ihre (keltische) Urbevölkerung ist für uns nicht erheblich. Und rechtlich spielt für uns Napoleon eine größere Rolle als Gaius, Theodosius oder Justinian mit ihren großen römischen Rechttextsammlungen. Europa ist als Begriff überhaupt erst in der Renaissance durch Abgrenzung zu den Osmanen entstanden und daher in seiner geographischen Ausdehnung sehr variabel.
In der Antike war alles jenseits von Rhein und Donau absolutes Barbarenland, aber eigentlich alles nördlich von Nordgriechenland und Norditalien schon sehr anrüchig. Heute gehören zu Europa und seiner Kultur sicherlich Briten und Skandinavier dazu, die wollen aber nicht so wirklich, während Polen, Ungarn und Slowaken sich für die Verteidiger Europas halten, aber seine heutigen Werte mit Füßen treten. Und Russland, jahrhundertelang selbstverständlich Teil des Europadiskurses, aber nie so richtig Teil davon, ist seit 1917 eher Bedrohung als Teil Europas - im öffentlichen Diskurs - und die Staatsführung gefällt sich zurzeit auch sehr in der Rolle des
Enfant terrible.
Das ist schlicht nicht auflösbar und einheitlich definierbar. Und deswegen sind Aussagen wie "China ist 5.000 Jahre alt" oder "Schiller ist Deutsch" einfach Quatsch. Schiller sagt den meisten Schülern gar nichts. Goethe geht bei den meisten nicht über Faust hinaus, da zählen Michael Bay oder Charts einfach mehr.