Der in Leningrad geborene und in den USA lebende Schriftsteller Gary Shteyngart hat sich für die 'Süddeutsche Zeitung' fünf Tage lang das TV-Programm des russischen Fernsehens angeschaut. Auszüge (
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Das Erste, was einem auffällt, wenn man russisches Staatsfernsehen schaut, ist die totemistische Faszination für das Hakenkreuz, das regelmäßig auf einem meiner Bildschirme erscheint. Manchmal in Aufnahmen aus der Nazizeit, manchmal in angeblichen Videos der ukrainischen extremen Rechten. Mal ist es in den Nachrichten zu sehen, mal in einer Dokumentation, mal in einem Fernsehspiel. Spätestens beim dritten oder vierten Hakenkreuz des Tages beginne ich zu glauben, dass das faschistische Symbol nicht nur zur Verunglimpfung dient, sondern auch eine unterbewusste Berufung auf die autoritäre Macht und den eigenen Faschismus des Staates zeigt.
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In der heutigen Ausgabe von Wer ist dagegen? wird zum Beispiel so getan, als wären Schweden und Finnland zum Beitritt zur NATO gezwungen worden. Ein anderer Diskussionsteilnehmer spricht den Begriff »LGBTQ+« betont falsch aus, unter allgemeinem Gelächter. (»Ist das ein Plus oder ein Minus?«, fragt ein anderer.) Anschließend erklärt ein »Wirtschaftsexperte« dem Publikum, dass die Körper von Transgender-Personen zu zerfallen begonnen haben. Für all das werden keine Beweise angeführt, es wird einfach nur geredet oder, wie manche zu sagen pflegen, es werden »Fragen gestellt«.
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Auf die zerrüttete Familie folgt auf NTW nun eine Sendung mit dem Titel Lektionen in Russisch, in der ein russischer Schriftsteller in Militärkleidung vor einem Schild mit der Aufschrift »Nicht Frieden, sondern das Schwert« über seinen orthodoxen Glauben spricht.
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Neben den ständigen Aufnahmen von Antikriegs- und pro-russischen Demonstrationen in Deutschland ist das russische Fernsehen besessen von der angeblichen Perfidität der »Angelsachsen«. Hier wird die königliche Familie für eine Vielzahl von Sünden kritisiert, die vom Kolonialismus in Afrika bis zu den drei Millionen Pfund reichen, die König Charles angeblich von einem katarischen Scheich erhalten hat.
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»Er hat gedroht, mir die Zähne auszuschlagen«, sagt eine andere Frau, und wir sehen eine Reihe von erschreckenden Blutergüssen. Das Stalken von Verflossenen durch verschmähte Liebhaber, so heißt es in der Sendung, sei auch in den USA und Deutschland ein Problem.
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In der russischen Sprache, erklärt uns der Sprecher, gebe es kein Wort für »Verlierer«, sondern nur den »Neudachnik«, wörtlich: eine unglückliche Person. »Der Verlierer ist selbst schuld, wenn er nichts erreicht hat«, erklärt der Moderator. »Der Neudachnik trägt keine Schuld, wenn er nichts erreicht hat, ihm fehlt nur das Glück, er verdient Mitleid.« Russland, ein Land mit schlechten Straßen, verfallenden Häusern und einer miserablen Lebenserwartung, ist also keine Nation von Verlierern, denen es an Leistungsbereitschaft mangelt, sondern von Menschen, denen das Glück nicht hold ist. Mit anderen Worten: Geben Sie nicht Putin die Schuld für das Chaos, in dem wir leben!
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Währenddessen erfahren wir in den Rossija-1-Nachrichten, dass »Sholtz sich voll und ganz auf Amerika festgelegt hat. Deutschland wird mit den steigenden Energiepreisen nicht fertig. Daran sind die Grünen schuld. Deutschland wird bald zu Kenia werden«.
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Russlands neuer bester Freund ist derweil Xi Jinping aus China. Er wird als viriler und gut bewaffneter Weltführer dargestellt. In vielen Sendungen sind chinesische Jets zu sehen, die angeblich gerade auf Taiwan zusteuern. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko dagegen kommt als Russlands Lieblingsvasall und Putins lustiger Handlanger rüber. Womöglich, um von Russlands zunehmenden Vasallenstatus gegenüber China abzulenken.
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So viele der Sendungen, die ich in den vergangenen fünf Tagen gesehen habe, waren vom Westen besessen, von unseren Clintons und Soroses und von der Leyens. Russland ist der verschmähte Liebhaber mit der »sehr aggressiven Natur«, der seine Unmenschlichkeit an dem unschuldigen Nachbarn von nebenan auslässt.
Was mir noch auffällt: Die russische Propaganda scheint besessen von der Idee, Deutschland als Opfer der "Angelsachsen" zu zeigen, und dass die Bevölkerung die Politik Berlins nicht mittrage. Was könnte hier das Motiv sein? Wünscht man sich den Verbündeten aus der guten alten Zeit zurück? Oder würde ein neuerlich die "Nazis" unterstützendes Deutschland dem Narrativ widersprechen, dass Russland die Nazis im Alleingang und endgültig besiegt hat?