Ich vermute mal, dass dieser gesamte Komplex, also die Ausdehnung der NATO und die mögliche künftige Bündnispolitik in direkter Wechselwirkung mit den damals sehr vielschichtigen diplomatischen und großpolitischen Entwicklungen stand. Man darf nicht vergessen, dass 1988 erst spät erste Anzeichen einer möglicherweise transformativen Krise der UdSSR auftauchten und Ende 1991 Ost- und Mitteleuropa völlig umgestaltet waren. Es ging alles sehr schnell und es spielten sich viele Dinge gleichzeitig ab.
Während die Montagsdemonstrationen in der DDR erst Anfang September 1989 begannen, liefen, nach Vorbereitungen im Januar, ab März bereits die Verhandlungen über den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag). Ziel war es die konventionellen Streitkräfte in Europa abzurüsten, wozu ein maßgebliches Instrument die Deckelung dieser Streitkräfte je Block war. Der (KSE-Vertrag trat 1992 in Kraft, da war der eine dieser Blöcke bereits zerfallen, aber die Unterzeichnung fand am 19. November 1990 statt, da existierte die DDR nicht mehr, aber der Rest des Warschauer Paktes war noch nicht aufgelöst und die Staaten noch nicht völlig transformiert.
Wesentlicher Inhalt des KSE-Vertrags waren eben die Obergrenzen für schwere Waffen je Block. Die UdSSR musste bei den Verhandlungen über die Deutsche Wiedervereinigung also zwingend über Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mitverhandeln, denn sonst lief sie - zumindest theoretisch - Gefahr, dass die BRD die Waffen der übernommenen NVA aus Sicht der UdSSR falsch deklarierte innerhalb der KSE-Vertragsgrenzen oder gar eine Rechnung aufgestellt worden wäre, nach der der Westen den Anteil des schweren NVA-Geräts zusätzlich als Blockanteil erhielte und damit der KSE-Vertrag völlig aus der Balance geriete.
Man wird deswegen besonders scharf auf die DDR geschaut haben im Laufe des Jahres 1990, während im Februar 1990 der Kollaps des Warschauer Paktes sowie der gesamten sowjetischen Hegemonie eben noch gar nicht absehbar war. Der KSE-Vertrag wurde ja nicht umsonst direkt im Anschluss an die Unterzeichnung (also noch 1990) nachverhandelt und mündete in der gemeinsamen, aber nicht bindenden, Übereinkunft von CFE-1A (im Deutschen wohl "KSE-1A"), die alle sofort umgesetzt wurden.
Da sich in der 40-monatigen "Reduktionsphase" von KSE, in der die Gerätobergrenzen erreicht wurden, so viele neue Situationen ergaben, wurde dann Ende der Neunziger in Istanbul A-KSE verhandelt. A-KSE war ein Nachfolgevertrag, der die Idee des ursprünglichen KSE-Vertrages auf einzelne europäische Regionen hinunterbrach. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits drei ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten der NATO beigetreten, ohne dass Russland daraus Konsequenzen für den KSE-Vertrag gezogen hätte im Sinne eines Vertragsbruches. Gründe für diesen Beitritt waren die Angst der Neumitglieder vor neoimperialistischen Tendenzen Russlands in der zweiten Hälfte der Neunziger, als mit dem ersten Tschetschnienkrieg und Kriegen in Abchasien und Transnistrien Russland wieder begann seinen Einfluss an seiner Peripherie auszudehnen.
Der A-KSE-Vertrag wurde auf im Lichte dieser Kriege geführt, denn die NATO-Staaten forderten Russland auf seine völkerrechtswidrige Präsenz in Moldawien zu beenden und seine Präsenz in Georgien auf ein Niveau zu reduzieren, wie es die georgische Regierung erlaubte. Der A-KSE-Gipfel in Istanbul mündete dann in der Vertragsunterzeichnung durch 30 Staaten (NATO-Staaten und UdSSR-Nachfolgestaaten auch einschließlich Russlands), aber obwohl Russland den Vertrag auch ratifizierte, weigerte es sich seine Truppen wie versprochen aus Georgien und Transnistrien abzuziehen. In der Folge wurde A-KSE von den NATO-Staaten nicht ratifiziert.
Man sieht an dieser Entwicklung gut, wie sich die russische Politik eigentlich in der Linie nicht gegenüber der Sowjetpolitik änderte, sie blieb hegemonial-imperialistisch geprägt. Gleichwohl gab es Anfang der Neunziger einige Jahre, wo man bereit war sich zu ändern, schlicht weil der alte Kurs nicht mehr durchführbar war. Sobald man die Talfahrt Neunziger aber nur halbwegs überlebt hatte, konsolidierte man alle seine Grenzen und Einflusssphären - insbesondere auch jenseits der eigenen Staatsgrenzen und damit auf dem Gebiet freier und unabhängiger Staaten - und biss sich wieder in alten Gebietsansprüchen fest. Von da an ging es mit außenpolitischen Vertrauensverhältnissen auch wieder bergab, und zwar wohl nicht zufällig mit Putins Berufung zum Ministerpräsidenten noch vor dem Istanbul-Gipfel auf der A-KSE-Vertrag verhandelt wurde.
Erste Vertrauensbrüche auf beiden Seiten bahnten sich aber schon etwas vorher an: Die Visegrád-Staaten formten sich 1991 mit dem expliziten Wunsch der europäischen Integration, was die NATO-Mitgliedschaft aus ihrer Sicht unmittelbar voraussetzte. Die alten NATO-Staaten waren demgegenüber zunächst ablehnend eingestellt, änderten ihre Meinung aber unter befürwortender Moderation Deutschlands und dem gemeinsamen Eindruck post-sowjetischer Agressionen Russlands. Russland hingegen verstand den Kosovokrieg aus traditionellen Gründen als Affront gegen seine eigene Rolle, obwohl seine eigenen Grenzen und Interessen davon uneingeschränkt blieben. Unter Präsident Jelzin blieb der Bruch mit dem Westen und der (neuerlich vergrößerten) NATO aus, aber historisch betrachtet erfolgte der Bruch des Vertrauensverhältnisses unmittelbar nach der Inauguration Putins als Ministerpräsidenten.
Auch wenn Putin auf seiner berühmten Bundestagsrede noch von Vertrauen sprach, gegenseitige Absprachen wünschte und gemeinsame Feinde zusammen bekämpfen wollte, war Russland bereits zu diesem Zeitpunkt harte Kernkriterien des Völkerrechts in Europa schuldig geblieben und hatte wertvollen Vertrauen verspielt. Die bekannte Rede hielt er am 25.09.2001, zwei Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September. Mit diesem Datum drehte sich die Aufmerksamkeit der USA und vieler Europäer nach Zentralasien, was viele Kräfte kostete, die nun nicht länger für den noch bitter notwendigen postsowjetischen Vertrauensaufbau in Europa mit Russland zur Verfügung standen. Das Fenster der friedlichen Entspannungpolitik, die mit der Perestrojka Gorbatschows begonnen hatte, war damit geschlossen. Und solange Putin immer wieder auf vermeintliche Beleidigungen und alte Wunden Russlands verweist ohne die eigene Rolle (und die Geschichte Russlands) zu akzeptieren, wir das Fenster auch verriegelt bleiben.