Wer braucht Soldaten? Anrufbeantworter reichen!"Guten Tag. Wir haben soeben kapituliert." Oder: Bloß keine harschen Reden, lieber Runde Tische. So etwa ist die Stimmung, wenn die Deutschen an Wladimir Putins Verhalten in der Ostukraine denken.
Von Henryk M. BroderMein Kollege Alan Posener hat mir vor Kurzem an dieser Stelle im Zusammenhang mit den in der Ostukraine gefangen genommenen und inzwischen frei gelassenen OSZE-Beobachtern "Unkenntnis von militärischen Dingen" vorgeworfen. Damit liegt Posener richtig. Ich kann eine Gulaschkanone und einen Kanonenofen auseinanderhalten, weiß aber nicht, worin sich eine Kompanie von einem Regiment unterscheidet. Es ist mir auch egal. Ich will mich mit solchen "Kenntnissen" nicht belasten.
Zudem ist Posener nicht der Erste, der sich an meiner Unkenntnis militärischer Dinge stört. Ich erinnere mich noch gut an eine Kundgebung mit Franz Josef Strauß in den 70er-Jahren, als er ein paar Störer, die ihn mit Zwischenrufen nervten, von der Bühne anbrüllte: "Haben Sie überhaupt gedient?" Nein, hatten wir nicht.
Ganz besonders stört sich Posener an meiner Frage, warum die Geiseln, darunter erfahrene Militärs, sich bei einer Pressekonferenz vorführen ließen, statt aufzustehen und mit den Journalisten den Raum zu verlassen. Posener schreibt: "Vielleicht, weil ein erfahrener OSZE-Beobachter und Militär wie Oberst Schneider in der Geiselhaft auch eine Menge über die Zusammensetzung und Befehlsstrukturen der Terroristen in Erfahrung bringen kann. Und sicher aus dem einfachen Grund, weil die OSZE, die keineswegs 'kopflos agiert', sondern in vielen Teilen der Welt Beobachtungs- und Vermittlungsmissionen unterhält, für solche Fälle Richtlinien hat."
Ich war nicht mal bei der HeilsarmeeVielleicht, vielleicht auch nicht. Poseners Logik folgend, wäre es auch denkbar, dass die OSZE-Beobachter sich haben gefangen nehmen lassen, um "eine Menge über die Zusammensetzung und Befehlsstrukturen der Terroristen in Erfahrung (zu) bringen". Oder um die Anwendbarkeit der Richtlinien zu testen, die für solche Fälle erarbeitet wurden. Wie Wallraff bei Burger King, nur eben nicht undercover. Wie gesagt, ich weiß es nicht, und Posener, der ebenso wie ich nicht einmal bei der Heilsarmee gedient hat, kann es auch nicht wissen. Er kontert meine Frage mit einer wilden Spekulation. Und er belehrt mich: Wenn ein Haufen bewaffneter Heinis Geiseln nehmen, gehören nicht die Geiseln kritisiert, sondern die Geiselnehmer.
Darauf wäre ich von alleine nie gekommen! Allerdings, ich habe weder die Geiseln "kritisiert", in deren Haut ich nicht stecken mochte, noch den Haufen "bewaffneter Heinis", die von einem Warlord kommandiert werden, der seinerseits so tut, als habe er die Ausrüstung für sich und seine Jungs preiswert in einem Secondhand-Laden gekauft. Putin hält sich vornehm zurück, er wartet ab, bis er zu Hilfe gerufen wird. Und so nehmen die Dinge, wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, ihren Lauf.
Die Freilassung der Geiseln ist kein Sieg der Diplomatie, sondern ein weiterer Beleg dafür, dass nur das zählt, was Putin in den Kram passt. Er hat ein wenig Druck aus dem Kessel gelassen. Während die Geiseln auf dem Heimweg sind, schreitet die Russifizierung der Ostukraine voran. Glaubt wirklich jemand daran, es werde in drei Wochen freie Wahlen im ganzen Land geben?
Lahmer Papiertiger OSZEIn dieser Situation stelle ich nur fest, dass die OSZE ein lahmer Papiertiger ist, die EU ein müder Debattierklub und die Nato ein Verein zur Pflege militärischen Brauchtums, dessen Bedeutung etwa der Kampfkraft der "Prinzengarde der Stadt Köln" entspricht. Alle diese Organisationen sind so lange von Nutzen, wie sie sich gegenseitig huldigen und zu ihren jeweiligen Geburtstagen gratulieren können. Kommt es aber zu einem Ernstfall, sind sie nicht einmal "bedingt abwehrbereit", sondern abgrundtief hilflos. Nicht zufällig hat Matthias Platzeck vorgeschlagen, einen Runden Tisch mit allen Konfliktparteien ins Leben zu rufen, um die Ukraine-Krise zu lösen. Das war keine alberne Idee, sondern die logische Fortsetzung der bisherigen Palaver-Politik.
Das soll nicht bedeuten, dass ich für eine militärische Intervention bin, um die Ukraine vor dem Zerfall zu retten. Ganz im Gegenteil. Die "territoriale Integrität" eines "failed state" wie der Ukraine ist nicht das Leben eines einzigen polnischen, deutschen oder französischen Soldaten wert. Der Wunsch der EU nach "Osterweiterung" ebenfalls nicht. Und wenn man den Berichten der Reporter vor Ort trauen darf, ist es den Menschen in den Städten der Ostukraine völlig egal, von wem sie regiert bzw. unterdrückt werden.
Während die "prorussischen Separatisten", wie Putins Rollkommandos liebevoll bezeichnet werden, ein Rathaus und eine Polizeistation nach der anderen besetzen, gehen die Ukrainer ganz ungerührt ihren täglichen Geschäften nach. Widerstand gegen Besatzung sieht anders aus.
Wohlstandsverwahrloste GesellschaftIch habe vollstes Verständnis dafür, dass eine wohlstandsverwahrloste Gesellschaft, in der darüber diskutiert wird, ob die geschlechtliche Zugehörigkeit eine biologische Tatsache oder ein soziales Konstrukt ist, den Sinn für Realitäten verloren hat; dass sie nicht in der Lage ist, sich in die Gedankenwelt eines Politikers zu versetzen, der in Kategorien denkt, die der Westen längst aufgegeben hat: Ehre, Ruhm und Stolz.
Auch die sogenannten Putin-Versteher irren sich, wenn sie uns erklären, worum es dem Kreml-Macho geht. Sie sehen nur den kleinen Mann, der sich aus bescheidensten Verhältnissen nach oben gearbeitet hat und nun Russlands alte Größe wiederherstellen möchte; sie sehen nicht die Brutalität und die Menschenverachtung, die den Kern des zaristisch-sowjetisch-russischen Systems ausmachen und seine Vertreter gegen alle Anflüge von Menschlichkeit immunisieren.
Vor 14 Jahren hat Putin 118 Matrosen des nach einer Explosion gesunkenen atomgetriebenen Unterseebootes "Kursk" geopfert, die möglicherweise hätten gerettet werden können, wenn er rechtzeitig Hilfe aus dem Ausland angenommen hätte. Aber sein Stolz und die Ehre Russlands ließen es nicht zu. Bei den Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater (2002) und in einer Schule von Beslan (2004) ließ er es eher auf ein Blutbad ankommen, als mit den Geiselnehmern zu verhandeln.
Entschlossen, nichts zu unternehmenWenn die Kanzlerin nun ausgerechnet Putin bittet, bei der Lösung der Ukraine-Krise nicht abseits zu stehen, dann ist das so, als würde sie einen Nachbarn, der ihr Haus verwüstet hat, darum bitten, ihr beim Aufräumen zu helfen, um die gute Nachbarschaft neu zu beleben. Von einer "Drohkulisse" zum Zweck der Abschreckung ist nicht einmal die Rede. Und eine militärische Aktion wie die zur Befreiung der Geiseln von Mogadischu im Jahre 1977 wäre heute vollkommen undenkbar. Man ist knallhart entschlossen, alles zu unterlassen, was die Situation eskalieren könnte.
Im Falle der Ukraine mag das durchaus die richtige Alternative zu einem militärischen Abenteuer sein, dessen Ausgang niemand vorhersagen kann. Aber dann müsste man als Erstes einsehen, dass Institutionen wie die Nato und die OSZE wenig hilfreich sind, dass man es mit einer asymmetrischen Situation zu tun hat, die unkonventionell angegangen werden muss.
Wie so etwas geht, hat der Gründer der dänischen Fortschrittspartei, Mogens Glistrup, Anfang der 70er-Jahre vorgeführt. Er schlug vor, die dänische Armee abzuschaffen und durch einen Anrufbeantworter zu ersetzen, der jedem potenziellen Angreifer die Sinnlosigkeit seines Tuns klarmachen sollte: "Guten Tag. Wir haben soeben kapituliert."
Quelle:
http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder...er-reichen.html Broder zum aktuellen Geschehen in seiner unnachahmlichen Art...