Ein leider selten neutraler Artikel
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Ein neues Spielfeld für Kalte KriegerDas im Konflikt mit Russland wiedererweckte Blockdenken führt in die Irre. Der Westen ringt mit Putin nicht um Werte, sondern Interessen. Die Ukraine wird zum Spielball.In Krisenzeiten wächst das Verlangen nach einfachen Erklärungen und klaren Feindbildern. So lässt sich die komplizierte Welt in gut und böse, richtig und falsch einteilen; sie machen widersprüchliche Entwicklungen leichter begreifbar. Allerdings entsprechen sie meist nicht der Wirklichkeit.
Auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Russland um die Ukraine und die Krim ist ein solcher Trend zur Vereinfachung zu beobachten. Längst vergessen geglaubte Klischees, Vorstellungen und Begriffe leben auf. Es ist wieder vom Kalten Krieg die Rede, von einem Ost-West-Konflikt, einem Ringen um Freiheit, Einflusssphären und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Aus Sicht westlicher Journalisten und Politiker kämpfen in der Ukraine Freunde europäisch-moderner Werte gegen Gefolgsleute eines rückständigen, ethnisch-nationalen russischen Denkens und ihren Beschützern in Moskau. Wladimir Putin wird zum Wiedergänger kommunistischer Kreml-Herrscher stilisiert, die einst die Sowjetvölker mit eiserner Knute unters russische Joch zwangen.
Aus der Warte von Putin und seiner Apologeten hingegen haben in Kiew Nationalisten und Faschisten mit Unterstützung des Westens die Macht an sich gerissen und bedrohen nun nicht nur die "Russen" im Osten und Süden des Landes, sondern auch geopolitische, ökonomische und Sicherheitsinteressen Moskaus. Aus dieser Sicht ist es nur konsequent, dem Westen die Stirn die bieten und den verfolgten Brüdern im Nachbarland zur Hilfe zu eilen und sie ins russische Reich zu integrieren. Mit der Annexion der Krim muss das keineswegs zu Ende sein.
Sieg oder UnterwerfungDiese vermeintlich klare Frontstellung hat für beide Seiten einen entscheidenden Vorteil: Sie verschleiert wirkliche Motive und vielschichtige Interessen. Der große Nachteil: Eine Lösung des Konflikts wird auf absehbare Zeit fast unmöglich.
Denn ein Rückzug von eigenen Positionen würde für den Westen wie für Putin nun nicht mehr nur bedeuten, sich in Verhandlungen mit der anderen Seite um eine sachgerechte, friedenstiftende Lösung für die Ukraine zu bemühen. Mittlerweile käme es für die Hardliner auf beiden Seiten einer Unterwerfung unter die vermeintlich finsteren Zielen des jeweiligen Gegners gleich: entweder dem angeblichen Herzenswunsch Putins, das untergegangene Sowjetimperium wieder erstehen zu lassen; oder dem von ihm behaupteten westlichen Bestreben, Russland einzukreisen und es daran zu hindern, seinen angemessen, machtvollen Platz in der Geschichte und der Welt einzunehmen.
Die Realität ist natürlich deutlich komplizierter. In und um die Ukraine ringen nicht zwei Machtblöcke und ihre lokalen Statthalter wie in der Zeit bis 1989/90 um ideologische Maxime. Sondern es geht – wie fast immer in der internationalen Politik – um regionale Macht sowie vielfältige ökonomische und politische Interessen. Und zwar auf beiden Seiten.
Was soll "der" Westen sein?Und die sind keineswegs homogen, so wenig wie es "den" Westen gibt: Die USA haben politisch und ökonomisch weit weniger Interesse als die meisten Europäer an gedeihlichen Beziehungen zu Moskau. Für sie ist Russland nicht eine wichtige Macht auf dem selben Kontinent, sondern ein inzwischen nur noch zweitklassiger geopolitischer Gegenspieler, den man allerdings gelegentlich zur Beilegung internationaler Konflikte braucht. Die Osteuropäer suchen dagegen vor allem Sicherheit vor der einstigen russischen Hegemonialmacht, während insbesondere Deutschland nicht zuletzt aus wirtschafts- und energiepolitischen Gründen einen Ausgleich mit dem "Partner" in Moskau sucht.
Selbst in Russland ist die Unterstützung für Putins Kurs nicht ungebrochen. Trotz des nationalen Propaganda-Taumels demonstrierten Zehntausende gegen die Einverleibung der Krim. Und auch in der übrigen Bevölkerung dürfte die Begeisterung bald nachlassen, wenn klar wird, welchen Preis ihr Land politisch und wirtschaftlich für die Okkupation zahlen muss.
Faschisten in KiewUnd auch in der Ukraine verlaufen die Fronten weniger eindeutig als auf den ersten Blick angenommen. Auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz revoltierten nicht nur freiheitsliebende Europa-Anhänger gegen einen Despoten von Moskauer Gnaden, sondern ebenso ultranationalistische bis faschistische Kräfte, die mit den europäischen Idealen von Demokratie, Meinungs- und Gewaltfreiheit, Pluralismus und Multiethnizität wenig am Hut haben. Sie alle einte lediglich der Hass auf den von ihnen am Ende gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch und die von ihm geförderte Ausplünderung des Landes durch eine ostukrainische Oligarchen-Kaste.
Janukowitsch war für die EU bis zum vergangenen Herbst noch ein willkommener Partner bei den Verhandlungen über ein Assoziierungs-, Zoll- und Freihandelsabkommen. Das sollte nicht nur europäischen Firmen leichteren Zugang zum ukrainischen Markt und den Bodenschätzen und Industrien des Landes verschaffen, sondern liegt auch im Interesse der Wirtschaftsmagnaten der vormaligen Sowjetrepublik. Angesichts fehlender wirtschaftlicher Entwicklung in Russland suchen sie nach neuen Absatz- und Entfaltungsmöglichkeiten im Westen. Erst als Moskau damit drohte, Handelsverbindungen zu kappen, und mit Milliardenkrediten winkte, stoppte Janukowitsch in letzter Minute die Unterzeichnung des Abkommens.
Die Revolutionsregierung in Kiew indes ging kurz nach dem Umsturz ein Bündnis mit einigen jener Oligarchen ein, gegen die die Demonstranten auf dem Maidan gekämpft hatten; sie ernannte mehrere von ihnen zu Gouverneuren im Osten. Schließlich hatten deren Abgesandte im Parlament durch ihren Seitenwechsel die Entmachtung Janukowitschs erst ermöglicht.
Das verstärkte wiederum den Widerstand in der russischsprachigen Bevölkerung gegen die neuen Machthaber in Kiew, von denen einige früher Oligarchen gedient hatten. Die im Westen als "Freiheitsheldin" gefeierte Julija Timoschenko, die bei der Wahl im Mai Präsidentin werden möchte, war frühere selbst eine von ihnen. In der Wahrnehmung vieler Ostukrainer verbandelte sich so eine illegitime Regierung aus dem schon immer verhassten Westteil des Landes mit ihren Ausbeutern. Selbst manche, die sich nicht nach der alten sowjetischen Ordnung zurücksehnen, sehen angesichts dessen nun offensichtlich ihr Heil in einem Anschluss an Russland.
Ukraine nur Austragungsort des MachtkampfsZu dieser ohnehin komplexen Gemengelage kommen noch die geostrategischen Interessen aller Beteiligten: Die EU möchte ihren Einflussbereich nach Osten ausdehnen. USA und Nato wollen verhindern, dass nach ihrem Sieg im Kalten Krieg der einstige Gegner wieder Kontrolle über Osteuropa gewinnt. Putin wiederum strebt nach einem Vierteljahrhundert der Demütigung, wie er es nennt, ein historisches Rollback an. Er möchte Russland wieder zu einem Imperium von Weltgeltung machen. Und sich zu dessen Beherrscher.
In dieser weniger ideellen als machtstrategischen Auseinandersetzung ist die Ukraine lediglich Austragungsort des Machtkampfs. Die Interessen ihrer ohnehin gespaltenen Bevölkerung spielen nur eine untergeordnete Rolle für Russland wie die westlichen Länder. Auch wenn beide Seiten das Gegenteil behaupten. Den meisten Ukrainern und auch den Krim-Bewohnern dürfte es im Grunde ziemlich gleichgültig sein, dass sich Putin durch die Annexion der Halbinsel den Zugriff auf das Schwarze Meer und seiner maroden Flotte damit den Zugang zum Mittelmeer gesichert hat. Ihnen geht es nicht um territoriale Vormacht, sondern ums eigene wirtschaftliche und soziale Überleben und ihre kulturelle Freiheit. Egal unter wessen Herrschaft.
Die Auseinandersetzung um die Krim und die angrenzenden Regionen verlagert diese komplexen Konflikte auf die Ebene des Völkerrechts. Statt in Ruhe zu betrachten, welche Lösung für die Ukraine mit ihren unterschiedlichen internen wie externen Interessen mittelfristig die beste wäre – eine Verbindung mit der EU oder Russland oder mit beiden –, schaffen beide Seiten Fakten: Putin durch die Integration der Krim in die russische Föderation, die EU durch die Teilunterzeichnung des Assoziierungsabkommens. Die Ukraine wird geteilt, die Bevölkerung zerrissen. Und das alles unter dem Deckmantel angeblich hehrer europäischer beziehungsweise russischer Ideale.
Eine neue Teilung des Kontinents ist somit vorgezeichnet. Nur dass die Scheidelinie künftig einige Tausend Kilometer weiter östlich verläuft.
http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-03...-krieg-reloaded