ZITAT(400plus @ 22. Sep 2014, 16:00)
Wikipedia ist da gut (und sehr gut, und manchmal verdammt gut), wo es um recht eindeutige Fakten geht- deutsche Koenige aus dem Mittelalter, die Flaeche von Kuala Lumpur, etc etc. Wenn es irgendwie strittig wird (AfD, MH17, Affaere/Skandale um Politiker) sollte man alles mit viel Vorsicht geniessen.
Jein.
Schon einfache Daten sind ja oft strittig. Ich unterscheide hier bewusst mal zwischen Daten (Partizip Perfekt Passiv lat. dare, also dt. etwas das [gegeben] worden ist) und Fakten (gleichermaßen zu facere, etwas das [gemacht] worden ist). Daten sind für (viele/einige) Historiker kleinste Informationseinheiten, die wir als gegeben hinnehmen und nicht hinterfragen. Das ist relativ, aber Jahreszahlen sind z.B. Daten, auch wenn man sich fragen kann, wie die zustande kommen. Regierungszeiten sind aber nur dann Daten, wenn Sie unstrittig sind. Das ist seltener als man denkt. Die Strittigkeit wird aber oftmals nicht vermerkt in Überblickswerken, noch seltener in Konversationslexika oder Enzyklopädien wie Wikipedia.
Das Problem an "Fakten" also als Tatsachen dargestellte Daten ist ihre normative Kraft ("das Normative des Faktischen"). Wenn man sich komplexe Informationen anschaut, wird schnell deutlich, wie ich das meine und was die Auswirkungen sein können. Es passt darum auch gut in jede Diskussion über Propaganda.
Aussage: Der Zweite Weltkrieg beginnt am 1. September 1939 und endete am 8. Mai 1945.
Nun, ich würde sagen, das gilt für die meisten, die der Diktion der euro-amerikanischen Geschichtsschreibung folgen. Das sind so ziemlich alle Nachschlagewerke der Welt, aber auf nationaler Ebene werden ganz andere Eckdaten im Gedächtnis behalten. Das fängt mit den Ländern der ehemaligen UdSSR an. Dort ist der Kriegsanfang am 1. September 1939 wenig relevant. Dem eigenen Überfall auf Polen wird nicht gedacht, dafür aber dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR im Juni 1941. Der Sieg wird hingegen am 9. Mai 1945 gedacht. In den USA hat der 7. Dezember 1941 mehr Bedeutung als alle Daten zuvor. Für Japan ist der Angriff auf Pearl Harbor wichtig, aber nicht entscheidend. Im Krieg war man bereits seit Jahren mit China. Das Kriegsende kam nach den beiden Atombombenangriffen im August. In den USA feiert man daher V-E-Day und V-J-Day, also die Siege über die beiden Hauptgegner. Für alle kleineren Gegner, vor allem die Europas, war der Krieg auf Seiten der Achse oft deutlich vor Mai 1945 zu Ende, man feierte dann die Befreiung durch die jeweiligen Alliierten und zusätzlich den 8. oder 9. Mai 1945.
Im entstehenden Ostblock kam dann aber die sowjetische Hegemonie auf die Staaten zu, so dass nach dem Zusammenbruch der UdSSR oft ein erneuter Befreiungtag gefeiert wurde, ähnlich der Befreiung von den deutschen Truppen. Das wird hier nicht in Verbindung mit dem Zweiten Weltkrieg gesehen - und taucht auch bei den Daten nicht auf - aber vor allem für die baltischen Staaten und Polen sind die Jahre 1989 und 1990/91 so bedeutend wie zuvor nur 1939/40 und 1945.
Ein einzelner Krieg wirkt noch verhältnismäßig überschaubar und beeinflusst "nur" die Erinnerungskultur (immerhin ein entscheidender Faktor der Identitätsstiftung), aber man kann das auch auf Wirtschaftsdaten anwenden. Wenn man sich mal anschaut, wie oft Länder in Wirtschaftsrankings nach dem Bruttoinlandsprodukt, bzw. dem Durchschnittseinkommen pro Kopf gemessen werden, und man sich dann vor Augen hält, wie leicht das Durchschnittseinkommen pro Kopf beeinflusst werden kann von hohen oder niedrigen Einkommen in den untersten oder obersten Einkommensdezilen (zehn-Prozent-Staffelungen), dann ist schnell klar, dass hier nichts über das Einkommen einer tatsächlich existierenden Gruppe gesagt wird.
Nach dem Durchschnittseinkommen pro sind Deutsche um ein Vielfaches ärmer als US-Amerikaner. Aber geht es der Masse der Amerikaner besser als Deutschen? Das Median-Einkommen stellt das ganze anders da (in der Tendenz sind die USA aber dennoch vor Deutschland), zeigt aber vor allem, dass trotz steigendem BIP und Durchschnittseinkommen pro Kopf die Realeinkommen in Deutschland seit 2000 ganz gesunken ist, außer für das oberste Dezil, wo er leicht anstieg. Wenn man aber aus dem ermittelten Einkommen pro Kopf, das nach Abzug aller Pflichtabgaben Individuen noch zur Verfügung stehen schaut, was ein Deutscher und ein Amerikaner in der Tasche haben und was sie schon bezahlt haben, dann sieht es deutlich anders aus. Beide stehen ähnlich da (Amerikaner haben noch immer mehr Geld), aber Deutsche haben z.B. bereits die Krankenkasse bezahlt.
Statistiken "lügen" nicht, sie sind nur nicht Selbsterklärend. Und darum ist das bloße Nachschlagen von Daten so gefährlich, weil die Illusion, dass sie kontextfrei richtig wären eben trügt. Daten sind nur im richtigen Kontext "wahres" Wissen. In jedem anderen Kontext sind sie "Information", die geprüft werden sollte.