Just in dem Moment, da Russlands Führung die innenpolitischen Wogen nach der Wagner-Meuterei etwas geglättet hat, erfasst die Armee eine neue Welle der Erregung. Ausgelöst wurde sie durch die Entlassung von Generalmajor Iwan Popow und durch dessen Reaktion: Der Kommandant der 58. Armee äusserte in einer Audiobotschaft an seine Untergebenen heftige Kritik an der Armeeführung.
Er habe dieser die Probleme seiner für die Südfront in Saporischja zuständigen Kampfeinheiten geschildert, die er als «grösste Tragödie des modernen Krieges» bezeichnet: «Das sind das Fehlen von Konterbatteriefeuer und Aufklärung sowie der Massentod unserer Brüder durch die gegnerische Artillerie.» Auch habe Popow Generalstabschef Waleri Gerasimow aufgefordert, Einheiten mit grossen Verlusten auszuwechseln.
Statt auf ihn zu hören, so der 48-jährige Offizier, habe die Führung bei Verteidigungsminister Sergei Schoigu seine Absetzung in die Wege geleitet. «Der Feind konnte unsere Armee nicht vertreiben», sagt Popow in der Aufnahme. «Aber unser höchster Vorgesetzter versetzt uns einen verräterischen und heimtückischen Schlag in den Rücken. Er köpft die Armee im schwierigsten und angespanntesten Moment.» (...)
Die Probleme, die er anspricht, sind keineswegs neu und auch nicht rasch lösbar. Das Ausbleiben von Rotationen erschöpfter Truppen etwa hat mit den hohen russischen Verlusten und dem Personalmangel zu tun. Überraschender ist die von Popow angesprochene angebliche Unterlegenheit bei Artilleriegeschützen. Die Kritik könnte darauf abzielen, zusätzliche Ressourcen von der Führung zu mobilisieren. Sie dürfte aber auch auf wachsende Versorgungslücken im Gebiet Saporischja hinweisen, auch aufgrund der zunehmenden ukrainischen Angriffe gegen Logistik-Drehkreuze im Hinterland.
Die Entlassung fällt zeitlich mit der Tötung des stellvertretenden Kommandanten des südlichen Militärbezirks zusammen, dessen Kerneinheit die 58. Armee bildet. Ob ein Zusammenhang besteht, ist unklar. Oleg Zokow war in der Nacht auf Dienstag durch eine ukrainische Rakete getroffen worden: Dass der Kriegsgegner offenkundig genau Bescheid wusste über die Lage der Basis, zeigte erhebliche Lücken im Sicherheitsdispositiv auf.
Russische Kommentatoren, vor allem aus dem armeenahen Bereich, sorgen sich um die Wirkung der Entlassung Popows auf die Motivation der bereits vom Feind bedrängten Truppe. Der
Kriegskorrespondent Roman Saponkow nannte sie einen «ungeheuerlichen Akt des Terrors gegen die Moral des Militärs». Der erratische, aber gut vernetzte
Ultranationalist Igor Girkin malte sogar das Gespenst eines weiteren Aufstands und des Zerfalls der Armee an die Wand.
Popow spricht Versäumnisse an, die bereits Prigoschin thematisierte. Dass nun die Kritik von innerhalb der Armee kommt, macht sie noch heikler.
Wie die Wagner-Meuterei einzuschätzen ist, bleibt zwar auch Wochen nach ihrem raschen Ende unklar. Meldungen über die Exilierung Prigoschins nach Weissrussland erwiesen sich als falsch, Ende Juni erfolgte eine Art von Versöhnung mit Putin. Die Paramilitärs dürfen offenkundig einen Teil ihres Geschäftsfelds behalten und haben diese Woche gleichzeitig laut Angaben des Verteidigungsministeriums grosse Mengen an schweren Waffen an die offizielle Armee übergeben. (...)
Jene Kräfte, welche die grosse Unzufriedenheit über die Inkompetenz von Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerasimow vereint, dürfte die Absetzung Popows jedenfalls weiter verärgern. Ohne entscheidende Erfolge an der Front bleibt diese Unzufriedenheit auch für Putin höchst bedrohlich.